„Anima“ von den Berliner Alternative-/Post-Metallern Haven war eine meiner persönlichen großen Entdeckungen des Jahres 2018. Das 2020er Release „Vessel“ – bezogen auf die physische Daseinsform entgegen der spirituellen Ebene, welche auf der ersten EP aufgegriffen wurde – schickt sich an, den Vorgänger noch zu toppen.
Die EP startet mit „Miasma“, ein atmosphärischer Auftakt, cleane Vocals, die in der zweiten Strophe von markerschütternden Schreien ergänzt werden. Mantra-artig werden die Fluten beschworen, die den Schmerz, die Zerstörung und Auswucherungen hinwegspülen und einen ausgeglichenen Zustand der Welt wiederherstellen. Die Produktion der Scheibe ist crisp und transparent, die Frequenzen sauber separiert und wahrnehmbar, jedes Instrument ist klar zu hören und füllt seinen Raum aus. Musikalisch und teils auch thematisch bewegen sich die Berliner irgendwo zwischen Tool, Dredg und Amenra, was bei mir so dermaßen offene Türen einrennt, dass ich mich direkt zu Hause fühle. Das vierzehnminütige Epos ist beeindruckend komponiert, kohärent und dennoch abwechslungsreich.
Der Bass dröhnt zu Beginn des achtminütigen „Samsara“ schön rhythmisch, während im Hintergrund melodische Sprengsel der Gitarre an Tool erinnern und die cleanen Vocals ankündigen. Die folgenden Schreie stünden so auch jedem Amenra-Album gut zu Gesicht und untermalen den fetten Groove, so dass man den Kopf nicht mehr stillhalten kann. Nicht nur die Vocals stechen hier hervor, die Instrumentalfraktion weiß ohne Zweifel genau was sie da tut, nimmt sich aber auch für die atmosphärischen Phasen des Songs zurück und traut sich – auch außerhalb der erwarteten Tonfolgen und Harmonien – mitreißende Spannungsbögen aufzubauen.
„Within“, mit dreieinhalb Minuten der kürzeste Beitrag der EP, beendet die Reise und stellt die Frage, wie Körper und Verstand einander bedingen und beeinflußen, und ob das eine ohne das andere existieren kann. Der Track fungiert als Outro und Abschluss eines akustisch wunderschönen Spannungsbogens.
„Vessel“ ist gleichwohl eine schöne Reaktion auf den Vorgänger „Anima“ als auch eine logische Weiterentwicklung und Reifung des Schaffens von Haven. Die EP sollte bei Fans der oben genannten großen und international bekannten Bands in keinem CD-Regal bzw. digitalen Portfolio fehlen und könnte der Band durchaus auch zum Durchbruch verhelfen.